Mittwoch, 15. April 2020

Lesen in Zeiten von "Corona" III

Und dann lese ich dies hier und denke mir.......


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Er ist erlöst worden von den Music Halls, erlöst vom Vaudeville, erlöst von Mae. Er ist erlöst worden von Fünfzehn-Minuten-Sketchen, von Parodien und Burlesken, erlöst von Joe Rock,

Und er ist von Serienproduktionen erlöst worden, nur, um sich in einem neuen Hamsterrad wiederzufinden, denn Hal Roach leitet eine Fabrik, und deren Maschinen müssen gefüttert werde. Sie sind gefräßige Konsumenten von Ideen. Sie suchen das Neue, aber nur , um es zu replizieren. Sie fordern Vielfalt, aber nur, wenn diese entsprechend den Betriebsvorgaben normiert werden kann.

Er sieht die Vaudevilleakteure kommen und gehen. Sie spüren, dass das Ende des Theaterrings bevorsteht. Wenn Vaudeville untergeht, dann geht es rasch unter wie ein Schiff, da sich gerade solange über Wasser gehalten hat, um es denjenigen mit Selbsterhaltungstrieb zu ermöglichen, sich in die Rettungsboote zu begeben, die Angst hatten zu springen, mit auf den Meeresgrund nehmen wird.

Doch das ist nicht fair. Sie können nicht alle von Board gehen, diese Künstler. Einige hat der Theaterring bequem werden lassen; sie sind es zufrieden, endlos jene Gags zu recyceln, die sie erfunden, geerbt oder von anderen gestohlen haben. Und einige haben nur einen Gag, eine Sketch, eine kleine Nummer, und die wird nicht ausreichen um sie zu retten. Sie sind Schweine, die im Angesicht des blitzenden Messers herumtollen.

Bei den Nummern, die überleben und es zu einem Film schaffen, begreift man gewisse Dinge, ohne dass sie ausgesprochen werden. Man begreift, dass sie sich erneuern und abe doch scheinbar gleich bleiben müssen. Dass sie Abwechslung bringen müssen, ohne das Publikum zu verstören. Dass sie zuerst Charaktere aus Ton modellieren müssen, bevor sie beginnen, sie der Brennofenglut des Publikumsblicks auszusetzen. Vor allem aber müssen sie sich nicht nur der Kamera bewusst sein, sonder auch der Leinwand. Auf dies werden sie projiziert werden, und das Publikum wird sich seinerseits auf sie projizieren.

Babe, der Elektriker, weiß das. Babe hat das in reflektiertes Licht getauchte Publikum gesehen. Bald wird Babe von der Leinwand herabblicken und auf diesen anderen deuten, auf diesen Trottel neben sich, und diejenigen, die zuschauen, fragen, ob jemals zuvor ein Mann gezwungen war, eine solche Bürde mit sich herumzuschleppen. Babe wird um ihr Mitgefühl heischen, und sie werden es ihm anbieten, sogar während sie lachen, weil Babe im Grunde so ist, wie sie selbst sind.

Harold Lloyd blicht von der Leinwand herab und sucht Hilfe und Zustimmung. Harold Lloyd kann aus beidem keinen Nutzen ziehen, doch Harold Lloyd bewahrt sich einen Glauben an die Bereitwilligkeit des Publikums, ihm zu helfen, wenn es könnte, und an dessen Fähigkeit, ihm seine Zustimmung durch Gelächter und Applaus zu signalisieren. Es liegt im Ermessen des Publikum. Für Harold Lloyd genügt es zu wissen, dass das Publikum ihn retten würde, wenn es könnte, und dass das Publikum applaudieren wird, auch wenn Harold Lloyd gar nicht anwesend ist, um den Beifall zu hören.

Buster Keaton blicht von der Leinwand herab und bleibt teilnahmslos. Buster Keaton ist Hiob. Das Publikum kann ihm nicht beispringen, und mit dessen Applaus kann er nicht anfangen. Buster Keaton kann nur leiden.

Chaplin blickt von der Leinwand herab und erwartet Liebe. Das ist Chaplins Recht. Chaplin offeriert Lachen, aber nicht als Gegenleistung für diese Liebe. Chaplin erwartet diese Liebe als sein Recht, aber das Lachen muss zusätzlich gekauft werden. Die Währung ist Traurigkeit: Chaplin lässt sein Publikum genauso gern weinen wie lachen.

Und wie ist es bei ihm?

Er ist die Kamera und das Motiv. Er sieht und wird gesehen. Er nimmt auf und wird aufgenommen.

Und während er aufnimmt, erinnert er sich.

Aus "Stan" von John Connolly von 2018

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