Mittwoch, 7. September 2016

Irma Berlin

Heute um 17 Uhr werde ich am Schiffbauerdamm 12, 10117 Berlin, im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin diesen Text von Ankalina Dahlem lesen.



Irma Berlin

Irma Berlin  kam mit ihrem wunderbaren Nachnamen nach Berlin kurz nach dem Studium. Die Leute waren immer sehr ungläubig, wenn sie ihren Namen sagte. Am größten war die Verdutztheit bei der Polizei, wenn sie etwas als vermisst oder geklaut meldete. Das waren die Gesichter, in denen die Lippen nach vorne geschoben wurden mit einem Nicken und einem nicht hörbaren: „Sicherlich!“ Wenn sie still ihren Pass rausholte, um die Aussage zu bestätigen, änderten sich die Ausdrücke und ein: „Da heißen Sie ja so wie unsere schöne Stadt!“, perlte beschwingt und froh wie Champagner aus ihren Mündern.

Irma war Kriegsfotografin, feierte viel, fiel damit den Riesen in die Arme, die ihr kräftig zusetzten und ihr schönes Gesicht knittrig und geschwollen wie nach einem harten, verlorenen Kampf zurichteten.
In den letzten Tagen hatte sie Kontakt zu Jorge Binor aufgenommen. Der ihr einen Text zu einer neuen Fotostrecke schreiben wollte. Sie hatten sich noch nie getroffen. Beide erzählten sich übers Netz von den Riesen und fragten sich, wie sie ihre Schüchternheit überwinden konnten, kamen auf die Idee sich zu treffen: sie in Burka gehüllt und er mit Maske vor dem Gesicht. Als Irma die Geschichte beschleunigen wollte und ihn nach seiner Telefonnummer fragte, erklärte er in einer E-Mail, dass er nicht gut im Telefonieren sei, wollte aber am Wochenende vor seinem Sommerurlaub zu Besuch kommen und sich die Abzüge ansehen, um den Text in Ruhe am Mittelmeer zu schreiben und zu mailen.

Irma setzte sich an ihren Computer und schrieb ihm folgenden Text:

Lieber Herr Binor,
die Menschen sollen sich ja heutzutage smse schreiben, da braucht man keine Stimme mehr.
Für die meisten kann sich gar keine Sehnsucht entwickeln, weil man immer weiß wo man steckt und ob der Andere das passende zum Abendessen eingekauft hat oder im angegebenen Lokal zur richtigen Uhrzeit sitzt. Es gibt apps für Wetter, Bleigießen und Wahrheitsfindung.
Bestimmt bald auch eine, mit der das Telefon angehaucht wird, und die Promillewerte werden mit belegter, mahnender Stimme durchgegeben. Den Riesen kann man da nicht mehr ungewarnt in die Arme laufen. Wenn Sie Zeit haben, am Wochenende mit Chauffeur oder mit Rad vorbeizukommen freue ich mich.
In meinem Omistadtteil gibt es auch die S-Bahn.
Samstag ist nicht so gut, weil ich da mit großer Wahrscheinlichkeit den einen oder anderen Riesenkampf haben werde. Das heißt aber nicht, dass es nicht geht! Sagen Sie mir am besten, wie Sie Zeit finden, ich richte mich nach Ihnen.
Am Meer am Meer, das hab ich verstanden...!
Sie wollen barfuß schreiben mit den Füßen im Wasser, um die Sehnsucht zu löschen!
Pestalozzistraße 11, 10625 Charlottenburg, 1. Etage.
Klingeln bei Riese! (Nein!) Für sicher meine Telefonnummer:
01772887212,

mit freundlichem Gruß
Irma Berlin

Postwenden schrieb er zurück:

Liebe Frau Berlin,
komme Sonntagmorgen um 10 Uhr, werde mit dem Boot nach Mitte schippern. Ich erwarte Sie auf dem Dampfer, Einstieg Schiffbauerdamm, Ecke Friedrichstraße. Das wird das Beste sein. Wir machen die 4-Seen-Tour und könnten um ca. 15 Uhr Ihre Fotos in Charlottenburg anschauen!
Kämpfen Sie nicht am Samstagabend mit den Riesen.
Ich bin ein anstrengender Mensch und werde viele Fragen haben.

Bis Sonntag
Jorge Binor

Mit einem Lachen im Gesicht verließ Irma um 8.30 Uhr ihre Wohnung. Ungewöhnlich, dass sie so früh an einem Sonntagmorgen und ausgeschlafen unterwegs war. Außergewöhnlich, das sie ein buntes Kopftuch um ihren brünetten Haarschopf gebunden hatte und ihren Körper mit einem weiten, bodenlangen Kleid verbarg. Sie erfreute sich in Gedanken über ihre zu diesem Treffen gewählte Kleidung und auf die Dampferfahrt auf der Spree. Nach dem nächtlichen Regenguss standen die Kastanien dampfend vor Feuchtigkeit in friedlicher Kraft. Die Straßen, die sie rechts und links bewohnten, lagen an diesem Sonntagmorgen noch leer und ausgefegt wie kleinste italienische Dörfer in der Lombardei. Sie radelte durch deren Mitte in den früheren östlichen Teil der Stadt. Viel zu früh erreichte sie den Einstieg Schiffbauerdamm, Ecke Friedrichstraße.
„Hey, Immigrationsfrau!“, hörte sie den Ausruf hinter ihr. Als sie sich umdrehte, spürte sie, wie ihr eine harte Faust ihre Nase zersplitterte und wie ihr Körper taumelnd auf den Boden klatschte. Vier Männer traten sie mit Füßen immer und immer wieder, bis die kleine Dschunke lautlos eintraf, um sie zu verwahren wie eine Perle in der Auster gemächlich auf die andere Seite des Horizonts zu setzten.


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